Du bist die Liebe meines Lebens.
Ich starre auf den Satz, den ich da gerade geschrieben hatte. In blauer Computerschrift und sehr gut lesbar, und nur für Dich. Es kam zwar nicht ganz unerwartet, aber jetzt, wo ich die Worte lese, überrascht es mich doch. Bevor es da stand, war mir irgendwie schon klar, dass etwas in dieser Art auftauchen würde … schließlich ist da etwas, was ausgedrückt werden will.
Aber ich weiß gerade nicht wie. Und mir ist unbehaglich.
Ich starre immer noch. Sechs Worte, jedes für sich ganz harmlos. Nummer 1 und 4 von direkter Bedeutung für mich. Nummer 5 natürlich auch. Doch diese sechs hingeschriebenen Worte, in dieser Reihenfolge und mit einem deutlichen Punkt am Ende, der jede Relativierung ausschließt, das ist etwas anderes. Das ist das, was ich in mir fühle!
Es ist still, mitten in der Nacht und ich muss dringend schlafen. Für einen Moment schaue ich vom Monitor auf und in die Dunkelheit vor dem Fenster. Ich stelle mir vor, diese Worte und dieser Satz erreichen nicht nur Dich, sondern gehen in Druck, werden übersetzt und von Millionen gelesen.
Eigentlich sollte das nicht so schlimm sein. Das wurde schon viele Male geschrieben, zu allen Zeiten, ernst gemeint, als nichtssagende Floskel, als direkte Lüge - und genau da ist der Haken.
Ich schreibe diesen Satz zum ersten Mal. Und ich schreibe ihn, damit Du ihn liest. Wie viele der vielen Schreiber standen am Ende ihres Lebens noch hinter diesen Worten? Gibt es da welche und wenn ja, werde ich zu ihnen gehören?
Ich schaue auf den Satz und irgendwie werden die Buchstaben größer. Da habe ich mir was eingebrockt.
Ich döse mit dem Kopf auf dem Tisch und sehe im Halbschlaf mich selbst. Im edlen Gewand, mit Strumpfhose, Stiefel, Perücke und natürlich Degen, schreibe ich mit einer Feder den Brief auf Französisch an die Dame meines Herzens, die reifberockt, gepudert, ungewaschen und daher extrem parfümiert ist.
Als ich mir einen Floh aus der Perücke ziehe und ihn genüsslich zerquetsche, tropfen mir die Worte auf die Strümpfe. Meiner im Mund umhertastenden Zunge fällt erneut auf, dass ich kaum noch Feuchtigkeit im Mund habe.
Zeitgemäß bist Du weniger an einem obligatorischen Brief als an einem spannenden Duell zwischen mir und meinem ehrlosen Konkurrenten interessiert. Du hast einen aufgemalten Schönheitsfleck auf der rosa verputzten Wange.
Würde ich das dann wirklich schreiben?
Ich schiebe die Vorstellung beiseite, als mir einfällt, dass ich als Edelmann vermutlich niemals schreiben gelernt hätte. Ich würde den gesamten Brief von einem Schreiber formulieren lassen. Die sechs Worte wären dann nicht von mir niedergeschrieben worden. Ich könnte den Satz stehen lassen. Ich könnte mich jederzeit mit einer galanten Verbeugung von diesen Worten und Dir verabschieden.
Ich stehe übermüdet auf und gehe durch den Raum. Ich mache mir einen Senseo und drehe dem geschriebenen in dem Laptop den Rücken zu. Eigentlich will ich gar keinen Senseo. Eigentlich will ich die Zeit fünfzehn Minuten zurückdrehen. Aber hätte ich die Worte dann nicht auch geschrieben?
Also zurück zum Tisch. Da stehen sie und ich muss jetzt mit ihnen klarkommen. Ich setze mich hin, halte die heiße Tasse in den Händen und starre wieder auf den Bildschirm. Mir ist schon klar, dass Liebe kein Dauerbrenner ist, dass wir uns von Moment zu Moment bewegen und manchmal sogar zum nächsten durchs Gestrüpp durchkämpfen müssen.
Sorge ich nicht dafür dass du dies Lesen kannst, dann gestehe ich mir hier und jetzt ein, dass Du für mich eine Durchgangsstation bist. Es gäbe einen letzten Moment. Den Willen, Dich unbegrenzt zu lieben hätte ich nicht. Warum sollte ich Dich dann für ein Jahr, fünf Minuten oder überhaupt lieben? Ich müsste das sofort beenden, da ich Dich sonst hintergehen würde.
Voller Unbehagen schließe ich die Augen und sehe sofort, wie ich eine Art vorgedrucktes Kündigungsschreiben ausfülle. Darin muss ich neben dem Datum nur unsere Namen angeben und die passenden, vorformulierten Gründe für die einseitige Beendigung meiner Liebe zu Dir ankreuzen: „Besser geeigneten Partner gefunden“, „Umzugspläne“, „Langeweile“, „Nicht erfüllte Erwartungen“, „Zu viel Stress“, „Schlechtes Kosten-/Nutzenverhältnis“ und viele mehr.
Was mache ich da? Menschen kann man nicht zurückgeben. Ich bin doch dabei, eine Art Liebesbrief an Dich zu schreiben.
Ich wache aus dem Traum auf. Der Schreck hält an und sitzt tief. Mir zieht sich alles zusammen und das ist auch gut so. Du bist keine Durchgangsstation.
Ich stehe wieder auf und gehe durch die Wohnung, leise,als würdest du bei mir sein, schlafend im Bett..um Dich nicht zu wecken.
Noch mehr Senseo, dann zurück zum Tisch, ich brauche ein leeres Worddokument.
Thema: Was macht die Liebe meines Lebens aus?
Ich fange an, Deine Eigenschaften hin zu kritzeln. Nach ein paar Minuten merke ich, dass Ausdrücke wie „Unpünktlich“, „Unentschlossen“, „Hat Vorurteile“, „Manchmal überheblich“ ganz wie von selbst erscheinen und zu „Graue Haare“, „Neigt zu Cellulite“, „Wird irgendwann dicker“, „Doppelkinngefahr!“ gesellen.
Das wird ja immer besser!
Mir ist schon klar, dass Du nicht mehr die Projektionsfläche bist, auf die ich meine schönsten Träume pinseln darf. Aber wo bleiben „Liebevoll“, „Blitzgescheit“, „Großes Herz“, „Tiefsinnig“, „Unendliche Neugier auf das Leben“? Warum steht da nicht „Wunderschön“ oder einfach die „absolute Frau“?
Alarmiert hole ich das nach.
Ich bin von mir selbst genervt. Lege mich auf das Bett, schleiche wieder durch die Wohnung. Zwischendurch höre ich Xavier Naidoo. Du bist nicht hier, und du fehlst mir sehr. Sofort geht eine Welle der Zuneigung durch mich.
Ich setze mich auf den Bettrand und will aufgeben. Liebe ich Dich in diesem Augenblick? Ich mache die Augen zu und horche in mich hinein. Ja.
Mir ist völlig klar, dass ich über Deine Eigenschaften nicht weiter komme. Ich kann aber nicht anders und schreibe hilflos an der Liste weiter, klassifiziere, streiche, ändere. Das kann ich gut.
Ich will unbedingt etwas Messbares finden, aus dem die sechs Worte wie von selbst folgen.
Nach einer Stunde dämmert es. Natürlich bin ich gescheitert. Ich habe die Nacht nicht geschlafen, nicke am Tisch ein und werde wieder wach.
Draußen sehe ich schon die Menschen sich bewegen. Oft beneide ich sie um ihr Leben
. Sicher, es ist nicht schwieriger oder einfacher als meines. Aber eben anders. Viele Fragen stellen Sie sich nicht. Dafür andere.
Die Familie, die vorne im Haus wohnen, scheinen sehr ausgeglichen zu sein, sind immer am arbeiten, gehen mühsam ihren Lebensweg. Wie sehr das Ehepaar sich liebt, weiß ich nicht. Ihre laute Sprache unterscheidet sich so sehr von meiner. Sie lieben ihre Kinder. Es ist für sie sicher unvorstellbar, das alles aufzulösen.
Beim Zuschauen fällt bei mir der erste Cent. Natürlich gibt es da Dinge, die mich bei Dir anziehen und Dinge, die es nicht tun. Und alle diese Dinge wechseln. Ich fange langsam an, meine Listen zusammen zu räumen.
Natürlich liebe ich nicht automatisch jemanden, die Dir einfach nur in vielem ähnlich ist oder aus anderen Gründen gut oder besser zu mir passen würde. Du bist diejenige, die ich zum ersten und einzigen mal Liebe. Das brauche ich nicht weiter zu begründen – das ist einfach so. Basta!
Ich lösche meine Listen, verstecke sie tief im Virtuellen Papierkorb und wende mich wieder dem Dokument zu.
Die Sache mit „Du bist die Liebe“ wäre mal geklärt. Wieder einmal. Und wieder einmal auf eine andere Weise. Was ist nun mit „meines Lebens“? Und was mache ich aus dem Punkt dahinter, der ungeduldig auf und abspringt, je länger ich auf ihn schaue?
Staunend schaue ich in den Kühlschrank. Nicht weil der wie immer Leer ist, sondern weil ich mich nicht erinnere, ihn geöffnet zu haben. Mit Blick auf die Käsescheiben denke ich wieder an die Familie vorne im Haus. Haben die sich geliebt, als sie beschlossen, den Weg gemeinsam zu gehen? Oder war es nur eine bislang stabile, fast schon geschäftliche Entscheidung?
Ich habe keinen Hunger. Und auch kein Problem. Dafür aber die Antwort, die sich endlich aus ihrem Versteck traut. Und natürlich weiß ich, dass die Antwort auch nicht neu ist. Obwohl es nichts damit zu tun hat, bedanke ich mich beim Kühlschrank für seine Hilfe bei der Deutung der Dinge und mache die Tür zu.
Die sechs Worte stehen für Willen, der Punkt für Entscheidung. Sie stehen für den Willen, das, was mich zu Dir zieht immer wieder neu zu suchen und immer wieder neu zu finden, egal, wie Du Dich veränderst. Den Willen, dankbar zu sein für alles, was Du für mich getan hast und noch tun wirst. Der Punkt ist meine Entscheidung, die Liebe, die ich nicht begründen kann, auf diese Weise für den Rest meiner Zeit, meines Lebens zu erhalten.
Ich gehe zum Tisch und mache aus dem Punkt ein Ausrufezeichen. Dann krieche ich in Gedanken zu Dir ins Bett.
Denn….
Du bist die Liebe meines Lebens.
©by soulkisser |